Starke Kälber – Starke Kühe | Teil 2 – Grundlagen Wachstum, Entwicklung und Leistungsveranlagung

verfasst von: Jürgen Plesse, Förster-Technik GmbH, 2013

Dass die weiblichen Kälber die Kühe von morgen sind, ist vielfach publiziert worden und eigentlich eine Binsenweisheit. Dennoch gab es über Jahrzehnte Empfehlungen für die Kälberfütterung, die weit vom Bedarf entfernt waren. Unter der Argumentation der Sparsamkeit sollte so wenig wie möglich Milch- oder Milchaustauschertränke verabreicht werden. Darüber hinaus galt die Lehrmeinung, dass die Kälber so früher Kraft- und Rauhfutter aufnehmen und sich schneller zum Wiederkäuer entwickeln.

Aktuelle Studien (JURKEWITZ, KOCH, HAMMON) zeigen, dass diese Annahmen falsch waren und die stark restriktive Fütterung später zu erheblichen ökonomischen Verlusten führt.

Bereits vor der Geburt und in den ersten Lebenswochen wird die Grundlage für die Zellausstattung der Organe gelegt. Das Geburtsgewicht der Kälber liegt bei etwa 6-7 % der adulten Körpermasse. Dieses sollte innerhalb von 56 Tagen verdoppelt werden (VAN AMBURGH). Das entspricht einer täglichen Zunahme von annähernd 1.000 g.

Entscheidend für die spätere Wachstumskapazität und Leistungsveranlagung ist nicht nur die Wachstumsgeschwindigkeit, sondern auch der Zeitpunkt, zu dem das Wachstum stattfindet. FIEBIG et al. konnten bereits 1985 die unterschiedliche Zellausstattung der Organe und den Einfluss der Aufzuchtintensität auf das Organwachstum aufzeigen. Danach sind zum Beispiel beim Herz bereits 45 % der Zellen angelegt, wenn es 14 % seiner endgültigen Masse erreicht hat. Andere Organe zeigen ähnliche Tendenzen in unterschiedlichen Intensitäten (FIEBIG et. al).

Diese und andere Studien (KOCH, STEINHÖFEL) zeigen, dass die höchste Zellzahlzunahme im Verhältnis zur Körpermasse in den ersten 50 Lebenstagen stattfindet. Die intensiver aufgezogenen Tiere weisen in der Folge bis etwa zum 150. Lebenstag höhere Wachstumskapazitäten auf. Für einige Organe und die Skelettmuskulatur dauert die hyperplastische Wachstumsphase nach FIEBIG bis zum 150. Lebenstag (LT) an und teilweise darüber hinaus. Somit wird die Grundlage der Organ- und Muskulaturentwicklung bereits in den ersten 50 Lebenstagen gelegt.

Die Entwicklung des Euters basiert auf der Anlage in der frühen Jugendentwicklung. Bezüglich der Veranlagung des Euters untersuchten BROWN et al. den Einfluss unterschiedlicher Fütterungsintensität in zwei Wachstumsphasen. In Phase 1, bis zur 8. Lebenswoche, erhielt eine Gruppe eine „moderate“ Diät mit einem Milchaustauscher (MAT) mit 21,3 % Milchproteinanteil (MPA), 21,3 % Fett und einer Energiekonzentration (EK) von 4,7 kcal ME/g. Die Fütterung wurde so ausgelegt, dass eine  Trockenmasseaufnahme von 1,1 % der Körpermasse (KM) erfolgte. Eine zweite Gruppe erhielt einen MAT mit 30,3 % MPA, 15,9 % Rohfett und 4,4 kcal ME/g. Verabreicht wurden 2 % Trockenmasse (TM) bezogen auf die KM. Nach Schlachtung wurden die Parenchymmasse des Euters und der Anteil je 100 kg KM ermittelt. Nach dem Absetzen der verbliebenen Tiere erfolgte die erneute Trennung der Gruppen in restriktiv (auf 400 g Lebenstagszunahme (LTZ)) und intensiv (ad libitum) gefütterte. An diesen Tieren wurde die weitere Entwicklung der Euteranlage im Verlauf der 9.-14. Lebenswoche untersucht. Im Ergebnis zeigte sich, dass die intensiv gefütterten Kälber im Mittel über etwa die dreifache (275 %) Ausstattung mit parenchymalem Eutergewebe verfügten als die restriktiv gefütterten. Im weiteren Verlauf konnte eine derart starke Differenzierung in Abhängigkeit vom Ernährungsniveau nicht mehr nachgewiesen werden.

Aus dieser Studie von BROWN et. al leitet sich ab, dass eine restriktive Versorgung der Kälber in den ersten Lebenswochen kontraproduktiv zur zellulären Organausstattung ist. Sie wirkt sich somit lebenslang negativ auf die phänotypische Ausprägung der genetisch veranlagten Leistung aus. Gleiche Tendenzen zeigen Mike VAN AMBURGH und MEYER in einer Studie der Cornell University (Ithaca, NY).

Das pränatale und früh-postnatale Ernährungsniveau beeinflusst auch die lebenslang wirkende Einstellung der metabolischen Reaktion, die derzeit oft unter dem Begriff der „metabolischen Programmierung“ publiziert wird. Darunter ist die Anpassung des Organismus auf eine mögliche Unterversorgung mit Energie oder Nährstoffen zu verstehen. Die Hormon- und Enzymausstattung passt sich einem möglichen Mangel mit dem Ziel an, dem Individuum unter diesen Bedingungen einen Überlebensvorteil zu verschaffen. Trifft ein so „programmiertes“ Individuum auf eine ausreichende oder gar über dem Bedarf liegende Versorgung, neigt es zu Stoffwechselstörungen, Erkrankungen, Verfettung und Leistungsdepressionen (KOCH und HOMMON, 2013, „Nutztierpraxis aktuell“ 43/2012).

Unter den Verhältnissen der häufig noch immer angewandten reduzierten Fütterung der Kälber wird in derzeitigen Produktionsabläufen der Milchproduktion genau dieser Zustand erzeugt. Während einer stark reduzierten Versorgung in der Tränkperiode erfolgt die Prägung zur Anlage von Fettreserven, um den Organismus auf die Möglichkeit eines  Nährstoffmangels vorzubereiten. Dieser Phase schließt sich oft eine intensive Fütterung mit Kraft- und Grobfutter an. Sie hat zum Ziel, unter Ausnutzung des kompensatorischen Wachstums(1), das Besamungsgewicht früh zu erreichen. Dadurch wird zum einen die mögliche Zellausstattung der Organe nicht erreicht und zum anderen die Veranlagung zur Depotfettanreicherung und zu Stoffwechselproblemen geschaffen. Herauszustellen ist, dass das unter den Bedingungen intensiver Fütterung der Milchkühe eine fatale Fehlentwicklung ist.

(1) „Als kompensatorisches Wachstum wird die Fähigkeit zum Aufholwachstum nach vorangegangenem Wachstumsstillstand bzw. Gewichtsreduktion infolge Krankheit oder restriktiver Ernährung  bezeichnet. Es sichert das Erreichen des artspezifischen Endzustands (Äquifinalität) und ist abhängig vom Entwicklungsstadium des Tiers, dem Umfang der Fetteinlagerung, Art und Grad des Nahrungsmangels, der Dauer und Intensität der  Wachstumsverlangsamung sowie von der Art der Ernährung in der Kompensationsphase.“ (Bergk)

Zur Langzeitwirkung des Ernährungsniveaus in der Aufzuchtperiode auf die spätere Milchleistung gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die tendenziell alle zum gleichen Ergebnis kommen. Intensiv aufgezogene Kälber zeigen eine höhere Leistungsbereitschaft.

SOBERON et al. haben 2011 eine Langzeitstudie mit über 1.200 weiblichen Kälbern zusammengefasst. Danach ergab sich für intensiv aufgezogene Kälber mit 998 g LTZ ein Vorteil von 2.278 kg Milch bis zur 3. Laktation gegenüber einer restriktiv gefütterten Vergleichsgruppe.

Neben der Milchleistung lassen sich auch Differenzen der Fruchtbarkeit und Reproduktionsleistung nachweisen. Grundsätzlich erreichen intensiv aufgezogene Kälber früher das Erstbesamungsgewicht, zeigen bessere Konzeptionsraten und somit ein früheres Erstkalbealter.

Bezüglich des Erkrankungsgeschehens ergibt sich in der Literatur kein einheitliches Bild der Erkrankungshäufigkeit. Einheitlich zeigte sich dagegen der Vorteil des kürzeren Krankheitsverlaufs und deutlich geringerer Wachstumsdepression der intensiv gefütterten gegenüber restriktiv versorgten Kälber.

In einer Studie der Förster-Technik GmbH zu den Auswirkungen unterschiedlicher Fütterungsintensität zeigt JURKEWITZ, dass bei Kälbern mit höherem Versorgungsniveau Erkrankungen mit deutlich geringeren Wachstumsdepressionen einhergehen. Die durchschnittlichen Zunahmen erkrankter, intensiv gefütterter Kälber lagen um 655 g über denen der restriktiv versorgten.

Ein weiterer wichtiger Indikator auf die unterschiedliche Entwicklung ist das Trinkverhalten. Es unterscheidet sich gravierend zwischen restriktiv und intensiv gefütterten Tieren. Wie bei JURKEWITZ zeigt sich auch bei anderen Autoren (Hill , Hammon ), dass restriktiv gefütterte Kälber wesentlich häufiger den Tränkautomaten aufsuchen, ohne jedoch Tränkeanrecht zu haben. 30 und mehr Besuchen der restriktiv gefütterten Tiere stehen 5-8 Besuche in der Intensivgruppe gegenüber. Dabei gibt es im Mittel der Intensivgruppe täglich nur einen Besuch ohne Abruf. Nach Überführung in die Abtränkphase steigen auch bei diesen Kälbern die Besuchszahlen bis auf durchschnittlich 15 pro Tag deutlich an. Wenn das Verfahren der ad libitum Tränke zuverlässig funktionieren soll, darf das Negativerlebnis, keine Tränke zu erhalten, nicht eintreten.

Die häufigen Besuche ohne Anrecht zeigen deutlich den Stress, unter dem die restriktiv gefütterten Kälber leiden. Die Intensivkälber werden damit erst bei Übergang in die Abtränkphase konfrontiert. Aufgrund des höheren Alters und des zunehmenden Übergangs vom hyperplastischen zum hypertrophischen Wachstum sind die Auswirkungen bei weitem nicht so nachhaltig wie bei den von Beginn an restriktiv gefütterten Kälbern. Darüber hinaus kompensiert der einsetzende Verzehr von Kraft- und Rauhfutter diesen Effekt teilweise.

In dem Zusammenhang ist auch das Problem des „Besaugens“ zu sehen. Sofern die Kälber nicht das Negativerlebnis am Nuckel haben und durch die eigene Rhythmik und Rezeptoren selbst über Zeitpunkt und Menge der Tränkeaufnahme entscheiden, entfallen die Ursachen für das Auslösen des Saugreflexes (Blutzuckerspiegel, Insulin-Somatotropin-Gefälle, Hungergefühl) nach dem Trinken nahezu vollständig. Bei intensiver Fütterung wird dieses Verhalten in der Praxis daher nur sehr selten beobachtet.

Einer der Gründe, der häufig für eine restriktive Versorgung der Kälber in den ersten Lebenswochen und ein frühes Entwöhnen von der Milch angeführt wird, ist die Entwicklung des Vormagensystems. Es galt lange Zeit als sicher, dass restriktiv gefütterte Kälber früher anfangen, Kraftfutter aufzunehmen und zu verdauen, und sich so schneller und besser zum Wiederkäuer entwickeln. Als Gründe dafür wurden der mechanische Reiz auf die Pansenschleimhaut und das Fettsäuremuster des Kohlehydratabbaus angeführt.

Der Prozess der Vormagen- und Pansenentwicklung ist allerdings hochkomplex. So wirkt die mechanische Stimulation im Wesentlichen auf die Entwicklung der Muskeln, die für die Kontraktionsbewegungen zuständig sind. Die Dichte der Pansenzotten ist nach SPRENG und anderen hauptsächlich altersabhängig. Die Entwicklung von Zottenlänge und –breite wird dagegen maßgeblich vom Fettsäuremuster, das in Folge der Kohlehydratverdauung entsteht, beeinflusst.

Da sich in den ersten Lebenswochen die mikrobielle Besiedlung der Vormägen, der Aufbau der Darmflora und die Bildung wichtiger Verdauungsenzyme erst entwickeln müssen, ist das Kalb auf die ausreichende Versorgung mit Energie und Proteinen aus Milch- oder  Milchaustauschertränke angewiesen. Pflanzliche Proteine sind nicht versorgungswirksam und die aufgenommenen Mengen an Kraft- und Grobfutter können nahezu keinen Beitrag zur Energieversorgung des Organismus leisten.

In Vergleichsversuchen unterschiedlicher Versorgungsniveaus (KUNZ, STEINHÖFEL, HAMMON, u.a.) zeigt sich, dass die Kraftfutteraufnahme restriktiv getränkter Kälber ca. 10 Tage früher beginnt als bei ad libitum Fütterung. Um den 50. Lebenstag übersteigt die täglich aufgenommene Menge die Grenze von 0,4 kg. Zu dieser Zeit steigen der Aufschluss pflanzlich gebundener Energie und Proteine und deren Beitrag zur Energie- und Nährstoffversorgung des Organismus langsam an. Ab dem 60.-70. Lebenstag erreicht das Futteraufnahmeniveau der intensiv oder ad libitum getränkten Kälber das Niveau der restriktiven. Kurze Zeit später übersteigt es diese Grenze oftmals. Aufgrund der besseren Organausstattung ist eine höhere metabolische Leistung der Intensivkälber zu erwarten. Ein negativer Einfluss größerer Tränkmengen auf die Pansenentwicklung konnte in mehreren Studien nicht nachgewiesen oder gar widerlegt werden.

Ein wesentlicher Faktor für eine gute Pansenentwicklung ist die Wasserversorgung. Wie KERTZ und NOCI zeigen, sinkt die  Pansenzottendichte rapide, wenn nicht ausreichend Wasser aufgenommen wird, da die Festfutteraufnahme bei ungenügendem Wasserangebot um bis zu 60 % gemindert ist. Neben der Tränke und dem Festfutterangebot sollte daher den Kälbern frisches Trinkwasser in ausreichender Menge und ständig zur Aufnahme angeboten werden.

Fazit:

  • Das hyperplastische Wachstum bildet die Grundlage der Zellausstattung der Organe und somit der Leistungsfähigkeit und Vitalität.
  • Pränatal und während der Jugendentwicklung verschiebt sich das Verhältnis von hyperplastischem (Zellteilungswachstum) und hypertrophischem (Zellmassewachstum) zugunsten des hypertrophischen Wachstums.
  • Die metabolische Programmierung ist eine Prägung auf das Nährstoffangebot. Sie vollzieht sich pränatal und in den ersten ca. 6 Lebenswochen in einem nicht umkehrbaren Prozess.
  • Tiere, die in der Prägung Nährstoffmangel erlebt haben, neigen zur Depotbildung in Phasen, in denen Energieversorgung den Erhaltungsbedarf übersteigt.
  • Während der frühen Tränkperiode sollte die Versorgung auf 800-1.000 g tägliche Zunahme ausgerichtet sein. Dazu eignet sich Vollmilch (ggf. mit Aufwertern) oder qualitativ hochwertige Milchaustauscher, die in genügend hoher Konzentration (mind. 12,5 % TM) und Menge verabreicht werden sollten. Pflanzliche Proteine sind vor allem in den ersten zwei Lebenswochen durch die Kälber nicht verwertbar und sollten daher während dieser Zeit gemieden werden.
  • Kompensatorisches Wachstum in der späteren Jugendentwicklung, vom Abtränken bis zur Besamungsreife, hat eine geringere Zellausstattung der Organe und eine Tendenz zu größerer Fett- und Wassereinlagerung zur Folge.
  • Große Trockenmasseaufnahmen (ca. 1,1 kg/Tier und Tag) aus der Tränke helfen, Stress zu vermeiden, und begünstigen die Regulationsmechanismen bezüglich Umweltanpassung und Überwindung von Erkrankungen.
  • Intensiv- oder ad libitum–Tränke stehen nicht im Widerspruch zu einer frühen und guten Vormagenentwicklung.
  • Neben der Tränke muss frisches Trinkwasser ständig zur Verfügung stehen.
  • Das Anbieten von Kraftfutter zur freien Aufnahme empfiehlt sich spätestens ab der 2. Lebenswoche. Ab der 5.-6. Lebenswoche und einer Aufnahme ab ca. 400 g/Tier und Tag leistet die ruminale Umsetzung der pflanzlich verfügbaren Energie und Nährstoffe einen maßgeblichen Versorgungsbeitrag.
  • In der Tränkperiode intensiv bzw. ad libitum versorgte Kälber bieten bessere Voraussetzungen für Jugendwachstum, Fruchtbarkeit- und  Milchleistung sowie Gesundheit und Vitalität. In der Folge sind eine längere Nutzungsdauer und höhere Lebensleistung bei besserer Lebenseffektivität zu erwarten.